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Montag, 23. Februar 2004

Brief an die Ministerien der Justiz am 10.10.2003

Brief an die Ministerien der Justiz

10.10.2003
von Gisela Nurthen und Marion J. Z Paderborn

An die Bundesministerin der Justiz
Frau Brigitte Zypries
Mohrenstrasse 37
10117 Berlin


Betrifft: Schwerer seelischer Missbrauch gegenüber der in Obhut gegebenen Kinder und Jugendlichen während ihrer Heimunterbringung zwischen 1945 und 1985.


Sehr geehrte Frau Zypries,

ich nehme hier kurz Stellung zu ihrem Brief an Frau Ute Berg vom 28.11.2003. Wir selbst sind Betroffene und Geschädigte dieser 'Fürsorge'-Erziehung in den 60er und 70er Jahren.
Ich bin der Meinung, dass nicht nur aus heutiger Sicht unsere Schicksale erschütternd sind, sie sind und waren einfach erschütternd. Ich weiß nicht, was Sie mit "Extremfällen" meinen? Selbst wenn es ein allgemein gültiges Bild in anderen kirchlichen Kinder- und Fürsorgeheimen gewesen ist, können Sie es nicht einfach damit entschuldigen.
Damalige "Werte" und "Rechtsvorstellungen" legitimieren sicherlich nicht die massivsten Misshandlungen (Erbrochenes aus der Kloschüssel essen, Bettnässer-Kinder ein paarmal unter kaltes Badewasser tauchen bis kurz vorm Ersticken [sic], Kinder mit Urin-nasser Hose Parade laufen lassen, um mit beauftragtem Hohn und Spott der anderen [Kinder] verhöhnt zu werden? Oder mit Urin-getränktem Laken so lange stehen zu müssen, bis es trocken war? Mit Peitschen blutig geschlagen zu werden; wegen Sprechens oder Lachens in Isolierhaft zu kommen, bei verschimmeltem Brot und Wasser? Oder das Beichtgeheimnis? Auch dieses wurde in einigen Heimen verletzt und der Beichtvater hielt danach den Stock zusätzlich bereit.
Ob diese Menschen wohl jemals wieder Vertrauen konnten?
Sexueller Missbrauch, sexuelle Misshandlungen durch Ordenspersonal, Pfarrer, und Bedienstete. All’ das wurde uns jahrelang zugefügt.
Was wir uns auch nicht vorstellen können: dass die Definition in den 50er, 60er, 70er Jahren bezüglich „FÜRSORGE-ERZIEHUNG“ massivste Misshandlungen, Folter, und sexuellen Missbrauch beinhaltete.
Ebenfalls unvorstellbar ist, dass die Weltanschauung der Kirche vor 40-50 Jahren eine andere war als das, was sie sich auch heute noch auf ihre „Fahne“ schreibt, nämlich: Nächstenliebe, Hilfe gegenüber den Ärmsten, aber ganz besonders Schutz und Liebe gegenüber den verlassenen Kindern. Setzt man dies um in die Realität, scheint es einer Schizophrenie gleichzukommen. Nächstenliebe hat keiner von uns erfahren dürfen.
Die Gesetzgebungen mit ihren Paragrafen geben einen politisch-korrekten Eindruck, entsprechen aber nicht der Realität.
Wir befinden uns seit Jahren in Therapie (inkl. Beratungsstellen), aber Opfer der 'Fürsorge'-Einrichtungen verdienen öffentliche Beachtung und Anerkennung der ihnen zugefügten Verletzungen, der physischen, der psychischen und sexuellen Gewalt. Nur dies ist ein Moment, das den Anstoß zu einer Heilung geben kann.
Wir benötigen für unsere Heilung eine öffentliche Auseinandersetzung und Akzeptanz von Seiten der Verantwortlichen: Kirche, Staat und Politik.
Bagatellisierung entbindet die Täter und Täterinnen von der Verantwortung für die Tat, weisen die Schuld anderen Personen oder bestimmten Umständen ("Normen" und "Wertevorstellungen") zu.
Ich hoffe, dass Sie uns Betroffene durch diesen Brief etwas besser verstehen werden und auch eine andere Sicht einnehmen können.
Es wäre schön, wenn Sie sich bald bei uns melden und uns mitteilen [würden], wie Sie uns in Ihrer Position unterstützen können.
Wir wünschen Ihnen frohe Festtage,
mit freundlichen Grüßen,

Gisela N.
Marion J.Z

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