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Montag, 23. März 2009

Heimkinder prangern Misshandlung an

++ 01.06.2004 15:49, dpa ++

Heimkinder prangern Misshandlung an
++ 01.06.2004 15:49, dpa ++

Kassel (dpa) - Die Vorwürfe wiegen schwer: Von Psychoterror,
körperlicher Misshandlung bis zu sexuellem Missbrauch reicht die Liste
der Anschuldigungen, die ehemalige Heimkinder bei einem Treffen am
Pfingstwochenende gegen Kinderheime in ganz Deutschland erhoben.
Für das, was sie nach ihrer Schilderung zwischen 1950 und 1970 in den
kirchlichen und staatlichen Einrichtungen erlitten haben, verlangen sie
Entschädigung und Wiedergutmachtung. Die kürzlich gegründete
Interessengemeinschaft misshandelter und missbrauchter Heimkinder, die
das Treffen in Kassel organisierte, versteht sich zugleich auch als
Selbsthilfegruppe.

"Es herrschte militärischer Drill", erinnert sich Heinz Peter Junge an
seine Zeit im Kinderheim Kalmenhof in Idstein. Geschlagen worden sei
dort mit Ochsziemern, Keilriemen und Gabeln. "Ich hätte fast eine Niere
verloren, weil ich mit einer Dachlatte geprügelt wurde, in der ein Nagel
steckte." Als preiswerte Arbeitskräfte seien die Heimkinder in der
Landwirtschaft eingesetzt worden. "Wir waren Maschinen, abgestumpft,
programmiert." Nach der Heimentlassung folgten Probleme mit Alkohol und
Drogen, zwei Selbstmordversuche und drei gescheiterte Ehen. "Ich wusste
nicht, was Liebe, was Zuneigung ist." Erst später habe er die Kurve
gekriegt.

"Wir wurden wie Sklaven gehalten", beschreibt Reiner Baatz seinen
Aufenthalt in einem Kinderheim an der Mosel. Bis zu 14 Stunden täglich
habe er für ein kleines Taschengeld im Weinberg arbeiten müssen. Von
seinen Geschwistern sei er getrennt worden. "Meine Schwester hat sich
aufgehängt, die war in einem katholischen Heim in Boppard."

Dass heute diese Schilderungen keiner glaube, sei für ihn schlimmer als
das eigentliche Geschehen. Dirk Friedrich war im St. Hedwig-Kinderheim
in Lippstadt in Ostwestfalen. Abstrafungen und ein ständiges Gefühl von
Schuld und Angst hätten dort geherrscht, sagt er. "Ich habe angefangen,
mich selbst zu verletzen, um Zuneigung zu kriegen."

"Es ist richtig, was die Interessengemeinschaft sagt", erklärt Jörg
Daniel, Sprecher des Landeswohlfahrtsverbandes (LWV) in Kassel, der in
Hessen Träger etlicher Kinderheime ist. "Es wurde damals erzieherisch
gearbeitet, wie es heute nicht mehr vorstellbar ist." Vereinzelt sei
dabei auch Gewalt angewendet worden. "Es herrschte noch eine autoritäre
Nachkriegsstimmung." Über die Bedingungen speziell in Idstein habe der
LWV später eine große Untersuchung anstellen lassen. "Wir sind
interessiert daran, dass man weiter darüber redet, wie die Bedingungen
waren."

Die strenge Heimerziehung in Deutschland wurde Ende der sechziger Jahre
zur Zielscheibe der Studentenbewegung, die mit der so genannten
Heimkampagne ein Umdenken und eine Verbesserung der Zustände in den
Heimen in Gang setzte. In Hessen demonstrierten 1969 rund 200 Menschen
vor dem Jugendheim Fuldatal bei Kassel, darunter die spätere
RAF-Terroristin Ulrike Meinhof. Aktionen linker Gruppen, die zur
außerparlamentarischen Opposition (APO) zählten, gab es in weiteren
Heimen in Hessen und anderen Bundesländern.

"Durch die großen Institutionen mit großen Gruppen abseits der großen
Städte entstanden problematische Bedingungen", sagt der Vorsitzende der
Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen in Frankfurt,
Hans-Ullrich Krause. "Nach den Sechzigern hat sich eine ganze Menge
verbessert." Die Ausbildung der Erzieher habe sich verbessert, viele
Großeinrichtungen seien aufgelöst und die Kontrolle der Heime durch die
Jugendämter stark verbessert worden. "Das System ist seitdem dezentraler
geworden, die Heimunterbringung ist die letzte Möglichkeit", sagt
LWV-Sprecher Daniel. Bevorzugt würden heute betreute Wohngemeinschaften.

"Wir wollen eine Wiedergutmachung und eine Anerkennung unserer Arbeit
für die Rente", sagte der Vorsitzende der Anfang des Jahres in Paderborn
gegründeten Interessengemeinschaft, Jean-Pierre de Picco. Vom
Arbeitseinsatz der Heimkinder hätten auch Firmen profitiert. Auch diese
sollten ermittelt werden. Rund 400 Ehemalige hätten sich bereits bei der
Organisation gemeldet, die Zahl der Betroffenen aber gehe in die
Tausende. "Nicht jeder meldet sich, weil viele noch immer Angst haben",
sagt er. "Du hattest zu glauben an Gott, Sünde und Strafe."

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